Als die Autorechnung über 3.000 € eintrifft, entscheidet Anne, dass sie mit ihrem Gehalt als Verkäuferin nicht weiterkommt. Sie informiert sich über Möglichkeiten, die aktuelle Gesetzeslage und Anforderungen und macht sich schließlich selbstständig. Ihre Empathie und ihr Gespür für die Bedürfnisse der Menschen verschafft ihr schnell einen festen Kundenstamm. Anne lernt Preise zu kalkulieren, Grenzen zu setzen und für sich einzustehen. Sie ist stolz auf ihre Selbstständigkeit, auf das Geld, das sie verdient. Und doch weiß nur ihre beste Freundin von ihrem Beruf. Anne ist Sexarbeiterin.
Anne und ihr Werdegang sind in diesem Fall frei erfunden und doch steht sie sinnbildlich für viele Sexarbeiterinnen in Deutschland. Denn auch wenn Prostitution in Deutschland legal ist und spätestens seit dem Inkrafttreten des Prostituiertenschutzgesetz im Jahr 2017 ein Beruf wie jeder andere sein sollte, ist die Sexarbeit nach wie vor mit einem Stigma behaftet. Sie wird in einen Topf mit Menschenhandel und Zwangsprostitution geworfen, Sexarbeiterinnen werden als Opfer gesehen, die ihre Arbeit keinesfalls freiwillig verrichten, und Bordellbetreiber*innen als Profiteure und Ausbeuter verachtet. Dies führt dazu, dass viele Frauen, die in dem Gewerbe tätig sind, weder Familie noch Freunden von ihrer Arbeit erzählen. Sie führen ein Doppelleben, bauen ein Lügenkonstrukt, das sich immer mehr aufbläht.
Um Vorurteile aus dem Weg zu schaffen, lud der Arbeitskreis der Grünen Frauen Oberberg die Sexarbeiterin und Prostitutionsaktivistin Stephanie Klee nach Marienheide ein. Dass „mit den Menschen aus der Branche“ gesprochen wird, ist ihr ein besonderes Anliegen. Sie berichtet von der Vielfältigkeit der Branche. Jede Frau hat einen anderen Hintergrund – die Hauptmotivation für den Einstieg in die Branche ist oft das schnell und gut verdiente Geld, aber auch Abenteuerlust und die Freiheit zu entscheiden, wann und wie lange man arbeitet, spielen eine Rolle. Ob Straßenstrich, Bordell, Escort, Wohnung oder BDSM-Studio – jede Frau definiert ihre eigenen Spielregeln und Grenzen.
Die Grünen Frauen machten sich darüber Gedanken, wie die Sexarbeiterinnen ihre Sicherheit während der Arbeit gewährleisten können. Stephanie Klee betonte, dass es ganz normale Männer sind, die diese Dienstleistungen in Anspruch nehmen: Ehemänner und Väter, Anwälte und Polizisten. Menschenkenntnis ist in diesem Beruf trotzdem unverzichtbar. Und eine aufmerksame Kollegin, die sich z.B. das Kennzeichen des Freiers merkt.
Die Auflagen des Prostituiertenschutzgesetzes, das 2017 in Kraft trat, mit dem Ziel die Arbeitsbedingungen zu verbessern, sexuelle Selbstbestimmung zu stärken und Ausbeutung, Gewalt und Menschenhandel zu bekämpfen, gehen laut Stephanie Klee an der Realität der Sexarbeiterinnen vorbei. „Es wurde ein Gesetz entworfen, ohne mit den Betroffenen zu sprechen“, so Klee. „Prostitutionsstätten sind die am besten überwachten Gewerbe. Die Auflagen sind finanziell herausfordernd, verbessern den Arbeitsalltag der Frauen aber kaum.“
Seit einigen Jahren werden in Deutschland die Rufe nach einem nordischen Modell lauter, in dem das Anbieten und Verkaufen von sexuellen Dienstleistungen straffrei bleibt, die Käufer*innen aber bestraft werden. Insbesondere die CDU/CSU fordert ein solches Sexkaufverbot. Klar dagegen sprechen sich die großen Verbände der Branche aus, wie der „Bundesverband für sexuelle Dienstleistungen e.V.“ und der „Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V.“. Ein solches Sexkaufverbot schade den Betroffenen – die Aufklärungsarbeit der letzten Jahrzehnte würde weggewischt, Sexarbeitende weiterhin stigmatisiert und die Betreiber*innen von Prostitutionsgewerben unter Generalverdacht gestellt.
Auch die Grünen sprechen sich klar gegen ein Sexkaufverbot aus. Laut der frauenpolitischen Sprecherin von Bündnis 90/ Die Grünen, Ulle Schauws, laufen Prostituierte durch ein Verbot Gefahr, in die Illegalität gedrängt zu werden.
Die Forderungen der Branche selbst sind laut Stephanie Klee: umfassende Reformen – also auch eine Überarbeitung des Prostituiertenschutzgesetzes unter Einbeziehung der Betroffenen – vollumfängliche Partizipation, Stärkung der Rechte der Sexarbeitenden und eine vollständige Entkriminalisierung der Branche. Ein Traum wäre das neuseeländische Modell, in dem die Menschenrechte von Sexarbeiterinnen geschützt werden und die Prostitution entkriminalisiert.